- Niedersächsische Landesmeisterschaften, Verden, 2023 -
04.01. - 08.01.
 

Sebastian mit epischen Schlachten im Meisterturnier
 
Back in Black

Endlich wieder mal eine Landesmeisterschaft! Die Erste ihrer Art seit 2020. Zweimal hatte man entschieden, die Veranstaltung abzusagen. 2022 fand (lediglich? immerhin?) eine abgespeckte Version des Meisterturniers statt. Aber jetzt fielen die Horden wieder in den Niedersachsenhof in Verden ein. Sebastian versuchte sich einmal mehr im Meisterturnier daran, den Landestitel nach Oldenburg zu holen.

Nachdem wir unsere Bude bezogen hatten, spielte Sebastian am Vortag der Meisterschaft als kleine Fingerübung die Landesschnellschachmeisterschaft. Hier schlug u.a. der deutsche Top 10-Spieler Dimitrij Kollars auf. Und sein Service kam wie bei Boris Becker: 7 aus 7 und Platz 1. Etwas zum Leidwesen von Ilja Schneider, der trotz Mehrfigur gegen den GM am Ende doch ins DGT-Brett beißen musste (was er Berichten zufolge wohl auch beherzt tat). Aber er war bester Niedersachse und somit Landesmeister.

Sebastian spielte Schweizer Gambit und verlor in Runde zwei gegen einen klar schwächeren Gegner. Aber den Rest gewann er und war punktgleich mit Schneider und weiteren Leuten mit 6 aus 7. Nach der Nebenwertung blieb der siebte Platz. Aber immerhin: Die Gelenke waren geölt! Aber Angst vor einem Gichtfinger in Zeitnot musste Sebastian nicht haben - die Probleme mit der Bedenkzeit sollten sich im Turnier etwas anders darstellen…
 

Sebastian beim Schnellschachturnier, hier am Brett gegen Ole Reller

Das Meisterturnier

24 Teilnehmer waren im Meisterturnier am Start. Ein sehr starkes Feld diesmal. Topgesetzt und etwas dem Feld voraus war Nico „Der Boss“ Stelmaszcyk mit 2368 Wertungspunkten. Sebastian tummelte sich dahinter in einem Feld von etwa 10 Leuten im 2200er Bereich. Kein Grund also, nicht (ganz) vorne mitspielen zu wollen. Es würde halt vieles von der Form abhängen.

Der NSV hatte aufgerüstet: Meisterturnier, A-Open und fast das komplette B-Open fand an elektronischen Brettern statt. Auch im C-Turnier gab es noch ein paar davon. Übertragen wurde mit zeitlicher Verzögerung von ca. 15 Minuten. Man meint anscheinend immer noch, damit Betrug wirkungsvoll bekämpfen zu können... In jedem Fall bekämpfte man die Nerven des Mitfiebernden, der noch vor dem Bildschirm hofft oder wahlweise zittert, während der Kumpel schon an die Zimmertür klopft: „Hey - schon fertig? Haste noch gewonnen?“

Tag 1
Dramatischer Auftakt

Auftaktrunde gegen Lucas Kiesel, ein junger 2000er, der nach meinen Daten hier sein Debüt bei einem Meisterturnier gab. Sebastian hingegen spielt seit 2008 durchgehend mit. Das Los ergab Weiß. Würde die alte Taktik also ziehen, mit Weiß zu gewinnen und mit Schwarz Remis zu machen, um ganz vorne zu landen? In der Partie stand Sebastian zunächst entweder klar besser oder schlimmstenfalls ausgeglichen, als dann die Abenteuer begannen. Steigen wir direkt ein in die Zeitnotphase (Fischer kurz, also 40 Züge in 90 Minuten + Inkrement von 30 Sekunden):

Sebastian - L. Kiesel (2000)
„Der hängende Turm“

Ich wünsche mir ja immer, dass es wenigstens einmal nicht entweder ein Drama mit Austausch von Höflichkeiten oder eine Seeschlange gibt, aber das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Im Grunde konnte man ja das Positive sehen: Nur ein wirklich schlechter Zug in der Partie. Aber was für einer!

*

In der zweiten Runde wartete dann das schwerstmögliche Los: Schwarz gegen die 1 der Setzliste. Aber Sebastian kam gut aus den Startlöchern. Die weiße Spielweise wirkte auch nicht so ambitioniert, vor allem die frühe Rückgabe des eroberten Läuferpaares. Und nach gut 20 Zügen hätte Sebastian fast gezeigt, wer der Boss ist:

Stelmaszyk (2368) - Sebastian

Im weiteren Verlauf konnte Weiß dann eine gute Technik zeigen und die Partie zu der folgenden Gewinnstellung kneten:

Nico Stelmaszyk - Sebastian
Stellung nach dem 72. Zug von Weiß

Das ist natürlich gewonnen für Weiß. Die einzige Hoffnung ist scheinbar, dass Schwarz mit dem Turm irgendwann den Bauern schlägt und Weiß dann das Matt mit Läufer und Springer nicht kennt… Das war nicht zu erwarten. Aber es ergaben sich am Ende auch Pattmotive und nach fast 100 Zügen waren die Bemühungen von Weiß zu Ende: Remis!

Das war die Situation, wo ich noch im Hotel mitfieberte, als es an der Tür klopfte… Mich erinnert das immer an meinen Nachbarn mit der besseren Antenne, der beim Länderspiel schon das Tor bejubelt, während sich bei mir der Spieler gerade den Ball zur Ecke zurechtlegt… Aber ok! Sehr gutes Ergebnis. Und nebem Drama auch noch (fast) eine Seeschlange. Läuft doch!

Tag 2
Wir legen noch ‘ne Schippe drauf

Und wenn man denkt, dramatischer ginge es nicht - kennt man Sebastian schlecht. In der Morgenrunde ging es gegen Torben Knüdel, der etwa bei 2250 rangiert. Hier galt es, Revanche zu nehmen, war Sebastian der Uelzener doch im letzten Jahr bei der provisorischen Landesmeisterschaft in die Parade gefahren. Das Mahl servieren wir hier in zwei Gängen. Zunächst eine gute Möglichkeit aus der Anfangsphase der Partie:

Sebastian - Knüdel (2268) (Eröffnungsphase)

Nach dieser ausgelassenen Chance geriet Sebastian auf die Verluststraße, es kam dann aber, auch in Zeitnot, zu einer verbissenen Schlacht:

Sebastian - Knüdel (Zeitnot- und Schlußphase)

Puh… Wieder mal dem Sensenmann noch so gerade vom Klamottenhocker gehüpft. Aber da hat der Oldenburger auch wirklich einen zähen Kampf geliefert in mehr als kritischer Stellung. Eine erschöpfende Schlacht der beiden Kämpfer hier.

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2,5 aus 3 sahen gut aus - aber es hätte auch ganz anders aussehen können zu diesem Zeitpunkt. Immerhin stand noch das Programm: 1 mit Weiß, ½ mit Schwarz. Nun war in der Nachmittagspartie wieder Schwarz an der Reihe. Es ging gegen den jungen Philip Reimer, der mit 2,5 aus 3 einen furiosen Start hingelegt hatte. Dabei war ihm eine glänzende Kombination gegen FM Laubsch gelungen. Das schauen wir uns später nochmal an.

In der Partie sah es so aus, als würde Sebastian mit Schwarz sogar mehr als Remis machen... Er erreichte eine Gewinnstellung mit Mehrfigur und sattem Zeitvorsprung. Was dann geschah, wird wohl in das persönliche Gruselkabinett eingehen…

Reimer (2144) - Sebastian
„Der Galerist“

Un-fucking-believable! Es ist nie gut, für die Galerie spielen zu wollen. Aber nun… In den ersten Runden (vor allem in der 1. Partie) hatte Sebastian das Glück des Tüchtigen. Und man ist halt einmal  die Windschutzscheibe und das andere mal die Fliege... Das hätte zu diesem Zeitpunkt die Tabellenführung bedeutet. Jedoch sollte sich Sebastian fangen und das Turnier zu einem vernünftigen Abschluss bringen: Es blieb die einzige Null im Turnier.

Tag 3
Über das Remis

So gab es nun kein Spitzenspiel, sondern ein Verfolgerduell gegen Jan Pubantz in Runde 5. Neben der Live-Übertragung wurden die Partien diesmal auch im Netz (Youtube etc.) von „offiziellen“ Kommentatoren begleitet. Grinsen musste ich, als die Kollegen meinten, dass nur der Sieger nochmal an die vorderen Plätze würde anknüpfen können und sinnierten, entweder würde man bis auf’s Blut kämpfen oder ein Kurzremis machen und sich mit einem Mittelfeldplatz zufrieden geben.

Da haben sie wohl bei den ersten 100 Landesmeisterschaften von Sebastian Kartoffeln auf den Augen gehabt! Sebastian gelang es diesmal, seine Vorbereitung auf’s Brett zu zaubern und Schwarz mit einem alten Zug von Karpow unter Druck zu setzen. Erst nach 22 Zügen war Sebastian aus seiner Vorbereitung. Jan Pubantz zog sich aber stark aus dieser Affäre und erreichte ein „ausgeglichenes“ Springerendspiel. Und nun nahm das Unheil wieder seinen Lauf:

Sebastian - Pubantz (2288)

Ich frage mich, warum unser Hotelzimmer eigentlich heile geblieben ist! Mehrfach war ich kurz davor, ins Mobiliar zu beißen. Aber betrachten wir es rational: Mit dem mir gegebenen (oder beschränkten?) Urteilsvermögen würde ich sagen, dass die ersten beiden Gewinnchancen nicht so einfach zu berechnen waren. g6 hätte man aber durchaus mal finden können, zumal mit viel Zeit auf der Uhr.

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So. Bislang war ja alles nur Spaß! Für die Nachmittagspartie legen wir nochmal nach mit einer weiteren Schlacht, wo Sebastian haarscharf am Punkt vorbeigehen sollte, diesmal machen wir daraus aber auch noch eine Seeschlange… Es ging mit Schwarz gegen Christian Polster (2233). Keine einfache Aufgabe. Diesmal wich der Gegner Sebastians Vorbereitung aus. Aber Sebastian meisterte die Probleme seiner Isolani-Stellung gut. Weiß bot nach 24 Zügen Remis an. Aber das Thema hatten wir ja schon… Als es in Richtung Zug 40 ging, verkomplizierte sich die Lage:

Polster (2233) - Sebastian

Sagte ich Seeschlange? Immerhin fast. Einmal mehr schade, aber man muss auch sagen, dass Sebastian in der Eröffnung einmal durch eine Zugumstellung genarrt wurde, wonach Weiß etwas Vorteil hätte haben können. Und am Ende hat Weiss auch zähen Widerstand geleistet.

Tag 4
Redemption song

Die letzte Runde war angebrochen. Sebastian lag auf Platz 6. Wichtig war es, zumindest unter die ersten 8 zu kommen, um sich für das Meisterturnier 2024 zu qualifizieren. Dazu würde wohl ein Remis reichen, aber die Aufgabe war etwas kniffelig: Schwarz gegen den Meister von 2019 und 2020, Tobias Vöge. Allerdings hat Sebastian gegen diesen Gegner eine gute Bilanz und zuletzt auch in der Liga einen vollen Punkt gegen ihn verbuchen können.

Und endlich gab es ein Einsehen: Nach sechs zum Teil haarsträubenden Partien („würde ich Alkohol trinken, hätte ich einen Schnaps gebraucht“) folgte zum Abschluss ein sehr schöner, positioneller und auch recht zügiger Sieg. Gegen so einen starken Gegner ist so etwas immer ein Kompliment:

Vöge (2306) - Sebastian

Das reichte dann mit 4,5 aus 7 sogar noch für Platz 5 und etwas Preisgeld. Und es gab ein schönes Ratingplus von etwa 25 ELO. Und trotz so vieler Stunden und Erlebnisse am Brett schien die Kondition nicht das Problem gewesen zu sein. Ermüdungserscheinungen gab es nicht. Höchstens der Betreuerstab streckt irgendwann alle Viere.

Das Schachleben der Anderen

Hier noch ein Blick auf ein paar sehenswerte Partien aus den Turnieren. Da könnte man sich natürlich stundenlang durch das Material klicken und bestimmt eine Menge finden, was berichtenswert wäre. Hier nur ein paar „Perlen“, die mir so auffielen.

Dynamik schlägt Turnierfuchs. Meinem Oldenburger Mannschaftskameraden Steffen Schumann gelang ein schöner Sieg in Runde 2 gegen Nordhorns alten Turnierhasen Ludger Höllmann. Steffen kommt in Vorteil, als Schwarz in eine Eröffnungsfalle gerät, und erreicht dann schnell eine Gewinnstellung. Sein Gegner kämpft, letztlich bis in ein Turmendspiel, aber Steffen lässt ihn nicht mehr herankommen und zeigt auch im Endspiel eine gute Technik. Stark! Hier die Tortur in voller Länge mit „leichten“ Kommentaren versehen:

Steffen Schumann (1927) - Ludger Höllmann (2055) 1:0

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Außenseiter verliert erst auf dem Zielstrich. Aus der Auftaktrunde des A-Turniers haben wir noch ein weiteres Kapitel aus der Reihe „wie der stärkere Spieler den schwächeren Gegner am Ende doch noch kriegt“. Da hat man ja schon wirklich vieles erlebt, auch aus der eigenen Anschauung. Hier konnte ein Jugendlicher 1800er gegen den mittlerweile FIDE-Meister Tobias Kügel aus Delmenhorst ein eigentlich nicht mehr verlierbares Endspiel erreichen. Aber dann passierte wieder einmal ein Wunder…

J. Kieselbach (1858) - Tobias Kügel (2309) 0:1

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Jugend kombiniert den Meister aus. Sehr stark präsentierte sich im Meisterturnier der 18jährige Philip Reimer, vor allem in der ersten Turnierhälfte, wo er mit 3,5 aus 4 einen starken Start hinlegte. Sehr eindrucksvoll war sein Sieg gegen den erfahrenen FM Bernd Laubsch. Laubsch brachte arglos seinen Turm ins Spiel, als ein Kombinationsgewitter über ihn hereinbrach. Sehr stark!

Bernd Laubsch (2290) - Philip Reimer (2144) 0:1

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Ein phantasievoller Zug. Abschließend ein toller Zug, der leider nicht gespielt wurde.

Torben Knüdel - Fabian Stotyn
Weiß hatte soeben 35. Td1-b1 gespielt.

In diesem Zeitnotduell zweier kämpferischer Spieler nahm Schwarz hier auf f2 und verlor dann nach dem folgenden Zug b4 schnell. Allerdings hätte es im Diagramm einen phantasievollen Zug gegeben, der für Schwarz sogar gewonnen hätte. Schade, dass dies nicht auf das Brett kam! Auflösung am Ende.

Fazit:

Eigentlich ist alles gesagt: Am Anfang lief es gut mit, dann kam die verpasste Chance in Runde 4. Am Ende fehlte dann wirklich der eine Punkt zum Titel (starke Buchholzzahl!). Es war ja auch nicht so, dass Sebastian nach der Null leichtere Gegner bekommen hätte. Das Programm hätte mit den beiden FM Polster und Vöge sowie Pubantz mit fast 2300 kaum schwieriger sein können. Immerhin: Die Performance war an die 2300, es gab  trotz der anstrengenden Partien keine konditionellen Probleme, und auch der Kampfgeist blieb ungebrochen!

Offizielle Turnierseite

- frank modder, 11.01.2023
 

Siegerehrung (v.l.n.r.):
"El Presidente" Michael Langer, der neue Landesmeister Nico Stelmaszyk,
David Riemay (4.), Jan Pubantz (3.), Sebastian (5.) und Moritz Gentemann (2.).

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Auflösung Knüdel - Stotyn:

Schwarz konnte gewinnen mit 35. … Lb4!! Dies deckte zunächst die Mattdrohung auf b5 durch Verstellung der b-Linie nebst eigener Mattdrohung durch Dxc3+ nebst Tg1 etc. Nach 36. cxb4 zeigt sich die andere Idee: 36. … Df4+. Der Läufer hatte auch die Diagonale für die Dame freigemacht. Jetzt hängt zunächst f2, aber es geht auch direkt dem König an den Kragen: Decken des Springers mit Kf1 scheitert an Tg1+, und nach 37. Kd1 Txf2 hängt die Dame und es droht auch Tg1+ etc.

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